Georgische Wurzeln ✔ Roman von Thomas Berscheid ✔ Ebook

Georgische Wurzeln

Roman von Thomas Berscheid als Ebook

Jan Meisler war Monate auf Reisen, um neue Medikamente für seinen Arbeitgeber zu suchen. Doch sein Forschungsprojekt landet in der Mülltonne. Frustriert geht Jan zu einem Konzert osteuropäischer Musiker. Die Geigerin Sopiko spielt ein Lied aus Georgien, das er von Kate Bush kennt. Er spricht sie nach dem Konzert an und führt die Musiker in ein Brauhaus in Köln. Sopiko führt ihn in die musikalische Welt ihrer Heimat Georgien ein. Von neuem Forschergeist beseelt, hilft Jan Sopiko, die Spuren ihres Großvaters in Frankreich zu finden, der nach dem II. Weltkrieg nicht mehr nach Georgien zurückkehren konnte. Geblieben ist von ihm nur ein Bild seines Ensembles. Jan und Sopiko kommen sich näher, aber die Trennung droht. 

Bei seiner Familie versucht Jan beruflichen und privaten Ärger zu vergessen. Er spielt Lieder aus Georgien, die Sopiko ihm beigebracht hat. Bei seiner Großmutter Elvira löst er damit eine Kettenreaktion aus. Auf der Suche nach Erinnerungen steigt sie auf den Dachboden und stürzt ins Koma. Als Jan ihre Sachen für das Krankenhaus packt, stößt er ausgerechnet auf Sopikos Bild des Ensembles. 

Jan weiß nun, dass er seine Großmutter ins Koma gebracht hat. Und er weiß, dass er einen der Männer auf diesem Bild aus Georgien finden muss, um sie zu retten. Denn dieser Mann ist sein Großvater.

Georgische Wurzeln: Ein Roman von Thomas Berscheid als Ebook. Die Geschichte basiert auf den Erfahrungen bei der Spurensuche nach dem Großvater von Irma Berscheid-Kimeridze. Thomas Berscheid hat schon Musik aus Georgien gehört, bevor das Land überhaupt wieder die staatliche Unabhängigkeit erlangte: Kate Bush hat Tsintskaro bereits 1985 in ein Meisterwerk eingearbeitet.

Autor:
Preis:
11,99 € inkl. Mehrwertsteuer
Anzahl Seiten:
185
Genre:
Roman / Belletristik
Erscheinungsdatum:
04. Oktober 2024
Typ:
E-Book
ISBN 13:
9783759256768

Die junge Geigerin, die den Abend moderiert hatte, ging nach der Pause wieder ans Mikrophon. Sie hatte sich als Musikerin aus Georgien vorgestellt, ein paar Dinge zu ihrem Land erzählt, so wie sie das über die Musiker aus dem Baltikum und Zentralasien getan hatte. Sie hatte Videos gezeigt, in denen ein Hubschrauber über ein Gebirge schwebte, Männer in langen Mänteln mit Mützen aus Fell über Schafe wachten und Kirchen kühn vom Berggipfeln herunter grüßten. Nun wollte sie etwas zum Beginn des zweiten Teils des Konzerts sagen. Sie bewegte die Lippen und sprach ins Mikrofon. Aber niemand hörte etwas. Sie drehte sich zur Seite und zeigte dem Techniker, dass etwas mit dem Ton nicht stimmte. Sie sagte noch etwas ins Mikrofon, ohne das man es hören konnte. Jedenfalls nicht hinten im Saal. Jan saß so nahe an der Bühne, dass er die Stimme der Frau als einen leichten Hauch wahrnahm. Dann hörte er sie wütend aufstampfen und einen Fluch rufen, den er nicht verstand. Ein überraschtes Echo der jungen Frauen hinter ihm machte ihm aber deutlich, dass es offenbar ein ziemlich deftiges Schimpfwort war. Die Geigerin atmete tief durch, nahm das Mikro in die Hand und begann eine Melodie zu singen. 

Jan schnappte den winzigen Hauch einiger Töne aus dem Mund dieser jungen Frau auf. Instinktiv hörte er auf zu atmen. Er meinte, er glaubte, es schien ihm so, als sänge diese Frau da eine Melodie, die er... Nein. Nein, das konnte nicht sein. 

Der Tontechniker hatte den Fehler gefunden. Mit einem Schlag erfüllte der Gesang der jungen Frau den ganzen Saal des Forums. 

Und da wusste Jan, dass er sich nicht getäuscht hatte. Plötzlich saß er aufrecht auf dem Stuhl. Sein Kopf, ja sein ganzer Körper schien nur noch aus Ohren zu bestehen. Er hörte der Melodie zu, die diese Geigerin da gerade sang. Sein Mund blieb offen stehen. Diese Melodie kannte er doch! Er hatte sie jahrelang immer und immer wieder gehört! Und nun sang diese Musikerin genau diese Weise? Verdammt! Woher kannte er.... Es ratterte in seinem Hirn. Und dann schnappten die Erinnerungen zu. Es war die Arzttochter aus Kent.

Sie wollte laut schreien. Sah Jan in die Augen. Und stärker als zuvor sah sie dort etwas, das wie ein ehrliches Interesse aussah. In ihr fiel ein Damm, den sie über viele Jahre errichtet hatte. Und so brandete die Geschichte ihrer Familie aus ihr heraus. Vom Großvater, der in den Großen Vaterländischen Krieg gezogen war. Der in Kriegsgefangenschaft geraten war und nicht in die Sowjetunion, nicht in die georgische sozialistische Republik zurückkehren konnte, weil Stalin alle Kriegsgefangenen zu Verrätern erklärt hatte, die eine Gefangennahme dem Heldentod vorgezogen hätten. Erzählte von den Briefen, die Demetre ihren Eltern geschickt hatte, in denen nie etwas persönliches stand, weil der KGB sie ebenfalls las. Und von der Chance, die sich ergeben hatte, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. 

„Darüber habt ihr euch gestritten?“ fragte Jan. Das Messer steckte noch in seinem Brötchen. Sie waren mittlerweile die letzten Gäste im Frühstücksraum. 

„Er muss Stunden geben“, sagte Sopiko enttäuscht und blickte auf den Parkplatz, auf dem Iraklis Vectra gestanden hatte. 

„Kennst du denn den Ort?“ fragte Jan. „Frankreich ist groß.“ 

„Das muss ganz in der Nähe sein“, sagte Sopiko. Sie griff in ihre Tasche. Ein leicht zerknitterter Brief kam zum Vorschein. Daneben ein Bild. 

Jan warf einen kurzen Blick auf das schwarzweiße Bild, auf dem er schemenhaft mehrere junge Männer wahrnahm. 

„Was sind das für Leute?“ fragte er. 

„Das war sein Ensemble“, antwortete Sopiko. „Vielleicht habe ich die Liebe zur Musik von ihm geerbt.“ 

„Er war Musiker?“ fragte Jan und zeigte auf das Bild. „Weist du, welcher von ihnen...“ 

„Der zweite von links“, sagte sie und tippte vorsichtig auf die Aufnahme. 

Jan rieb sich die Finger an der Serviette sauber, fasste das Bild an einer Ecke an. 

„Das ist dein Großvater...“ sinnierte er. „Und das ist... Wie hieß sein Instrument noch mal? Du hast mir gestern Abend...“ 

„Panduri“, antwortete sie mit einem leichten Lächeln. „Nicht schlimm. Wie die Jungs gestern Abend.“ 

Jan nahm den Brief, las die Adresse. Ein Ort in Frankreich, den er von der Karte her kannte. Der weitere Inhalt war in Russisch abgefasst. 

„Was steht da?“ fragte er. 

Sopiko schilderte ihm den Inhalt der knappen Sätze. Sie hatte sie schon so oft gelesen, dass sie nicht mehr auf den Brief zu schauen brauchte. 

„Warte“, sagte Jan und sprang auf. Sopiko sah ihn ein paar Sekunden später auf dem Parkplatz zu seinem Auto hasten. Er nahm etwas vom Rücksitz. Dann winkte er ihr mit dem Autoatlas zu. 

Er rückte den Teller mit dem Brötchen beiseite, schlug im Register den Namen des Ortes nach. 

„Sochaux“, murmelte er. Fand die Seite. Schlug sie auf. 

„Das ist wirklich nicht weit von hier“, sagte er dann. 

Er drehte den Atlas zu Sopiko hin. Setzte den einen Finger auf die Stadt in Frankreich und den anderen auf Heidelberg. Viel Raum zwischen beiden Fingern war nicht. 

„Gut zwei Stunden Fahrzeit“, schätzte er. „Da könnten wir hinfahren.“ 

Er sah Sopiko an. Ihre Miene heiterte sich auf.

„Hast du inzwischen eine nette Frau kennengelernt?“ wechselte Elvira das Thema. 

„Schon“, antwortete Jan leise, „aber... Ich versuche, sie gerade aus dem Kopf heraus zu bekommen.“ 

Sie wechselten einen Blick. Elvira spürte, wie tief Jan der Sache steckte. Sie wollte etwas sagen, suchte nach Worten. 

„Jan“, schallte es aus der Küche herauf, „kannst du den Tisch decken?“ 

„Komme!“ rief er laut herunter. 

„Sie ist zu weit weg“, sagte er leiser zu seiner Großmutter. 

Er ging zur Tür. 

„Muss ein schönes Land sein... Sie kommt aus Georgien“, sagte er und ging die Treppe herunter. 

Er sah den entgeisterten Blick seiner Großmutter nicht mehr, den sie ihm nachwarf.

„Eigentlich nicht die feine Art“, sagte Jan zu sich, „in den persönlichen Sachen seiner eigenen Großmutter zu schnüffeln...“ 

Jan suchte weiter. Er fand ein Dokument, schon etwas vergilbt, auf Papier, das langsam auseinander ging. Lager Friedland. Die Ankunft von Elvira Kreuzer mit ihrer Tochter Renate. Flüchtlinge aus der DDR. 

Jan blätterte weitere Bilder durch. Nahm ein weiteres Bild auf, das... 

Dann erstarrte er. 

Sein Atem setzte für ein paar Sekunden aus, als er das Bild sah. Das Bild zeigte eine Gruppe von Männern, die... 

Er schloss die Augen. Hielt sich am Schreibtisch fest. 

Nein, das konnte nicht die Wirklichkeit sein! 

Er schlug die Mappe zu, ohne hinzusehen. 

Wenn er die Augen aufmachte, dann war dieses Bild bestimmt nicht mehr da!